Chat-Transkript vom 07.01.2008

Karl-Martin Hentschel, Fraktionsvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen im Schleswig-Holsteinischen Landtag

Thema: Was ist ein gerechtes Steuersystem?

: SSVFan_(nip) hat den Raum betreten
: Moderator hat den Raum betreten
Moderator: Servus!
SSVFan_(nip): servus
SSVFan_(nip): wer moderiert?
Moderator: <-- rMk
SSVFan_(nip): ah ok
: Karl_Martin_Hentschel hat den Raum betreten
Moderator: Guten Abend Herr Hentschel!
SSVFan_(nip): Guten Abend Herr Hentschel
Karl_Martin_Hentschel: Guten Abend Herr Unterberg (ich hoffe, ich habe den Namen eben am Telefon richtig verstanden?)
Moderator: das war mein Redaktionskollege. Mein Name ist Maik Rottmann und ich bin heute der Moderator der für die Fragen aus der Community zuständig ist.
Karl_Martin_Hentschel: ok - dann hallo MR
SSVFan_(nip): Dann stelle ich mich auch nur in aller Kürze vor. Mein Name ist Manuel Schmid und ich bin Mitarbeiter der 25.Internetregierung. Ich vertrete heute kurzfristig unseren Internetkanzler, der leider verhindert ist.
Karl_Martin_Hentschel: Hallo Herr Schmid, wünsche ein gutes neues Jahr
SSVFan_(nip): Danke ebenso
Moderator: So, der Chat ist nun öffentlich geschaltet! Herzlich Willkommen zum Chat-Event bei dol2day! Unser heutiger Gast ist Karl-Martin Hentschel, Vorsitzender der Grünen-Fraktion im Landtag von Schleswig-Holstein, zum Thema "Was ist ein gerechtes Steuersystem?" - Herr Hentschel, bitte stellen Sie sich unseren Mitlesern kurz vor. Vielen Dank.
Karl_Martin_Hentschel: Ich bin 56 Jahre alt. Erst war ich Offizier der Bundeswehr, dann Mathestudium, dann Computer-Experte und Abteilungsleiter in einem Konzern, nun seit 10 Jahren Grüner Abgeordneter mit Schwerpunkt WIrtschaft.
Moderator: Herr Hentschel, was genau verstehen Sie unter einem "gerechten Steuersystem"? Im Vorfeld wurde eine pdf-Präsentation von Ihnen gezeigt in dem Sie gezielt auf das Vorbild Dänemark ansprechen. Wo genau bestehe die Unterschiede?
Karl_Martin_Hentschel: In Dänemark gibt es kaum Sozialversicherungsbeiträge, weil das Gesundheitssystem und das Rentensystem über Verbrauchssteuern und Kommunalsteuern finanziert werden. Dadurch sind die Lohnnebenkosten viel geringer als in Deutschland. Kurz: Arbeit wird entlastet und der Konsum wird mehr belastet. Das führt zur mehr Arbeit und einem besseren Sozialsystem.
Moderator: Frage von Stiegler an Karl-Martin Hentschel:    "Oswalt Metzger sagt immer, Kinder seien ein Kostenfaktor, den die Eltern verursacht haben und dass der Staat keine Subventionen geben soll. Das wurde bei dol2day schon von vielen kritisiert. Wie sehen Sie das?"
SSVFan_(nip): Herr Hentschel, sie haben für ihren Vorschlag Dänemark zum Vorbild genommen. Was spricht für Sie gegen die Vorgehensweise der Mehrheit der osteuropäischen Länder: die sogenannte "Flat Tax"?
Karl_Martin_Hentschel: DIe Flat Tax in den osteuropäischen Ländern Funktioniert, weil die Steuersätze sehr niedrig sind. Dann hat der Staat wenig Geld und kann wenig für Sozialleistungen, Bildung, Gesundheit und Renten ausgeben. Das spannende an Dänemark oder Schweden ist ja, dass sie mehr Steuern erheben als bei uns, aber gerechter und trotzdem wirtschaftlich total erfolgreich sind. Ein drastischer sozialabbau auf das osteuropäische Niveau würde in Deutschland niemand akzeptieren und es ist auch nicht wünschenswert. Zweitens: Es gibt in Osteuropa ein darastisches Gerechtigkeitsproblem - bei uns ja auch schon. Immer mehr Reiche und Arme. Da muss die Steuer gegenarbeiten.
Karl_Martin_Hentschel: Wer Kinder als Kostenfaktor betrachtet, der kann sich begraben lassen. Wer soll dann seine Rente bezahlen. Kinder sind eine Investition in die Zukunft. Deswegen sollte der Staat diejenigen, die Kinder großziehen unterstützen und für eine gute Ausbildung sorgen, damit die Kinder später dann auch Steuern zahlen können.
Moderator: Frage von Compadre an Karl-Martin Hentschel:    "Sind nicht Verbrauchssteuern besonders ungerecht, weil sie nicht die finanzielle Leistungsfähigkeit der Steuerzahler berücksichtigen?"
Karl_Martin_Hentschel: Progressive Einkommenssteuern sich gerechter als Verbrauchssteuern. Aber der "einfache" Bürger leidet ja nicht unter den Steuern. Vor allem wenn er Kinder hat mit Freibeträgen. Er leidet vor allem unter den hohen Sozialversicherungsbeiträgen, die insgesamt (Arbeitnehmer und Arbeitgeber) über 40% ausmachen. Dadurch ist Arbeit so teuer. Verbrauchssteuern haben dagegen eine soziale Komponente, weil auf die Miete keine Mehrwertsteuer entfällt und armr Leute zur Miete wohnen und Lebensmittel nur mit 7% besteuert werden. Dagegen sind die Sozialabgaben wie eine Flat Tax - aber nur für normale Arbeitnehmer - wer über der Obergrenze liegt zahl weniger Sozialabgaben oder gar keine. Das ist total ungerecht.
SSVFan_(nip): Herr Hentschel, Sie sprechen davon, dass die Deutschen das geringe Niveau der Sozialleistungen nicht akzeptieren würden. Ihr Vorschlag beruht darauf, dass Mehrwertsteuer und Ökosteuer einen höheren Anteil einer erhöhen Steuerlast ausmachen sollen. Insbesondere steigende Benzinpreise (DIW: bis zu 4 €/Liter bis 2020) sind derzeit ein heikles Thema in der Öffentlichkeit. Ihre Einschätzung: Würden die Deutschen noch höhere Kosten für den Konsum - durch den Staat verursacht - akzeptieren?
Karl_Martin_Hentschel: Höhere Kosten für den Konsum werden nur dann akzeptiert, wenn diese zugleich zu 100% in einer Senkung der Sozialabgaben zurückgegeben werden. Dann hat der "kleine Verdiener" sogar mehr in der Tasche. Zugleich muss die soziale Komponente überprüft werden - also der niedrige Steuersatz (7%) für Lebensmittel muss wirklich auf den notwendigen Bedarf konzentriert werden..
Moderator: Frage von LLange an Karl-Martin Hentschel:    "Zu einem gerechten Steuersystem gehören nicht nur die Einnahmen, sondern auch die Ausgaben. Für ein gerechtes Steuersystem muss auch daran gedacht werden für wem und wofür die Steuern ausgegeben werden und wer die Schulden von heute zahlt. Stimmen Sie dem zu? "
Karl_Martin_Hentschel: Noch eine Ergänzung zu Ökosteuern. Ökosteuern spielen in Skandinavien eine große Rolle. SIe dürfen aber immer nur schrittweise angehoben werden, damit der Verbraucher sich darauf einstellen kann und dann weniger Steuern bezahlt (zum Beispiel durch ein sparsameres Auto). Dann muss er aber auch Zeit haben, dieses Auto anzuschaffen.
Karl_Martin_Hentschel: Zu LLange: Ja natürlich. In Skandinavien gehen übrigens die Steuern überwiegend an die Kommune und nicht an den Zentralstaat. In Schweden zahlt ein Bürger mit einm Einkommen bis zu 30T EURO nur Steuern an seine Gemeinde. Dann sieht der Bürger genau, was damit passiert. Wenn dort eine Schule gebaut wird, kommt es vor, dass die Steuern für zwei Jahre erhöht und danach wieder gesenkt werden. Sowas geht nur in der Kommune.
Moderator: Frage von DeeJay an Karl-Martin Hentschel:    "Herr Hentschel, bitte verzeihen Sie den vulgären Ausdruck, aber kann "Rammeln für die Rente" denn die Lösung sein? Müssen wir nicht die SOzialsysteme der Gesellschaft anpassen, statt umgekehrt?"
Karl_Martin_Hentschel: Ich sehe das weniger ökonomisch sondern mehr philosophisch. Natürlich kann man eine Gesellschaft darauf einstellen, dass wir immer weniger und immer ältere Menschen haben. Aber das ist doch auch ein Ausdruck davon, dass die Gesellschaft kein Vertrauen mehr in die Zukunft hat. Natürlich müssen wir die Sozialsysteme der Gesellschaft anpassen. Aber das heißt doch nicht, die Kinder zur Privatsache zu erklären. Wer nicht mehr in seine Kinder investiert, der produziert auch Arbeitslosigkeit und Kriminalität für die Zukunft. Deswegen ist ja auch die Debatte um die Jugendkriminalität so absurd. Wer dagegen etwas tun will, muss in die Jugend investieren.
Moderator: Frage von LLange an Karl-Martin Hentschel:    "Mal ein provokante Frage: Wenn Sie schon das dänische Steuersystem bewundern, dann doch sicherlich auch den dort üblichen Kündigungsschutz? Immerhin, ein Steuerystem kann und darf nicht losgelöst vom Gesamtsystem einer Volkswirtschaft betrachtet werden. Dass wäre zumindest aus Sicht von Wissenschaftlern unseriös."
Karl_Martin_Hentschel: Richtig - es gibt in Dänemark keinen gesetzlichen Kündigungsschutz, wohl aber einen, der tarifrechtlich geregelt ist. Tatsächlich gilt das dänische System als extrem liberal. Aber dafür gibt es auch 4 Jahr ca. 80% Arbeitslosengeld (bis max. 1700 EURO). Und jeder Arbeitslose muss nach einer bestimmten Zeit für das Geld für die Kommune tätig sein. Fazit: Es ist ein geben und nehmen. Viel Freiheit, aber auch Forderungen, mehr Stütze aber auch weniger Kündigungsschutz. Ich finde das sinnvoll und die halb so hohe Arbeitslosigkeit spricht für sich.
Moderator: Frage von DeeJay an Karl-Martin Hentschel:    "Nochmal zu den Kindern: Die Eltern WOLLEN ja gerne in ihre Kinder investieren. Nur KÖNNEN sie zum Teil nicht. Ist da nicht der bessere Weg, es ihnen zu ermöglichen? Da kann der Staat in erster Linie für NIEDRIGE Steuern und Abgaben sorgen und DANN, wo es halt dennoch nicht reicht, zuschiessen?!"
Karl_Martin_Hentschel: Wer Familien wirklich helfen will, der sollte sie institutionell unterstützen. Interessanterweise ist das Kindergeld in Schweden niedriger als bei uns und Steuerfreibeträge, Baukindergeld und so weiter gibt es alles nicht. Dafür gibt es super Kindertagesstätten und Krippen mit kleinen Gruppen und qualifizierter Betreuung. Ergebnis: Die schwedischen Familien können ihre Kinder beruhigt und mit gutem Gewissen in die Kita gehen lassen (meist ab 1 1/2 Jahren) und weiter arbeiten. Dadurch geht es den Familien viel besser. Bei uns führen Kinder dazu, dass meist ein Ehepartner zu hause bleibt oder nach der Kinderpause auf billige Teilzeitjobs umsteigt. Ergebnis: Die Familien haben weniger Einkommen und mehr Ausgaben. Daran hakt es. Also: Ich fordere mehr Geld für KiTas - aber nicht mehr Geld für Familien.
SSVFan_(nip): Herr Hentschel, der Bund der Steuerzahler veröffentlicht jedes Jahr eine Liste mit Steuermittelverschwendungen von Bund, Ländern und Kommunen (2005: 30 Milliarden Euro Steuermittelverschwendung). Wie kommen Sie in Anbetracht dieser Tatsche zu der Annahme die Deutschen würden der Erhöhung der Abgaben für den Staat akzeptieren? Oder anders gefragt: Wäre nicht zuerst die Effizienz der Mittelverwendung einer Reform wert, anstatt der Erhöhung des Staatshaushaltes?
Karl_Martin_Hentschel: Ich bin unbedingt für eine Überprüfung aller Ausgaben. Das gilt besonders für so manche Prestigeprojekte. Die meisten Staatsausgaben gehen aber in Personal. Und da muss man sehr genau hinschauen. Kein Sparen bei der Bildung, aber in den Verwaltungsapparaten schon. Deswegen geht es ja auch nicht um mehr Steuern - sondern um ein einfacheres gerechteres System, das die Arbeit entlastet, damit Arbeitsplätze entstehen, die dann wieder mehr Steuereinnahmen bringen. Dann kann man die Steuern auch weiter senken.
Moderator: Frage von LLange an Karl-Martin Hentschel:    "Mal zu begrifflichen Klärung, im Grunde eine Kernfrage der Moralphilosophie: Was ist gerecht?"
Karl_Martin_Hentschel: Ich denke wir müssen zweierlei erreichen: 1. Wer sich engagiert und Ideen hat, für den sollte es sich lohnen. 2. Es muss verhindert werden, dass der Reichtum - also das Eigentum, sich bei immer weniger Menschen konzentriert, dann wird nämlich das System irgendwann nicht mehr akzeptiert werden von der Mehrheit. Deswegen brauchen wir ein gewisses Mass an Umverteilung. Das geschieht in der Praxis durch die progressive Einkommenssteuer und sehr gut auch durch die Erbschaftssteuer. Denn geerbtes Geld ist ja nun mal kein verdientes Geld.
SSVFan_(nip): Herr Hentschel, letzte Frage von meiner Seite: einen zentralen Punkt Ihres Vorschlags nimmt die Einkommenssteuerveränderung zur "Umverteilung von Vermögen" ein. Damit berücksichtigen Sie vor allem "Reich" und "Arm". Welche Vorteile ergeben sich aus Ihrem Vorschlag für den Mittelstand, der zur Zeit in der Krise steckt?
Moderator: Frage von LLange an Karl-Martin Hentschel:    "Noch einmal eine Frage: Müsste eine ideale Steuerreform nicht Hand in Hand mit einer umfassenden und aufeinander abgestimmten Förderalismusreform gehen? Was sie sagen ist ja gut und richtig. Aber dazu müssten die Kommunen, die Länder, der Bund klarer ihre Kompetenzen regeln und der erste Anlauf hierzu ist gründlich gescheitert und damit die Voraussetzung, dass ihr Steuerssystem funktioniert gleich mit.."
Karl_Martin_Hentschel: Zum Mittelstand: Ich halte es für schlecht, dass der Mittelstand in Deutschland wie Privatpersonen progressive Einkommenssteuer bezahlt. Dadurch zahlt er häufig mehr als eine Aktiengesellschaft. Besser wäre es, alle Firmen, auch die kleinen, mit einem festen Steuersatz zu besteuern, der niedriger sein kann, als die Einkommenssteuerspitze - denn wir wollen ja vor allem nicht FIrmen, die Menschen beschäftigen, sondern vor allem hohe Einkommen von Privaten besteuern. So wird es fast überall in der Welt gemacht. Dann zahlt ein Handwerksmeister an sich selbst ein Gehalt, das privat versteuert wird, und der Rest ist Gewinn und unterliegt einer Firmensteuer. Über ein solches System wird seit langem geredet, ich hoffe dass es endlich kommt.
Karl_Martin_Hentschel: Zu LLange: Ja - ich fände es gute, wenn im Rahmen der Föderalismuskommission die Länder und Gemeinden eigene Steuern bekommen. Einen Finanzausgleich zwischen wohlhabenden Ländern und weniger wohlhabenden kann es ja trotzdem geben. Wenn Land und Kommunen eigene Steuern haben, dann entscheiden die Bürger auch bei den Wahlen darüber. In Schweden hat das dazu geführt, dass die Steuern für den Zentralstaat deutlich gesenkt werden mussten, dass die Steuern der Kommunen für Schulen, Kindergärten oder ÖPNV sogar leicht gestiegen sind.
Moderator: Damit sind wir leider schon wieder am Ende des heutigen Chats. Vielen Dank Herr Hentschel, dass Sie sich heute füruns Zeit genommen haben und uns Rede und Antwort gestanden haben. Vielen Dank auch die Mitleser und Fragengeber.
Moderator: Leider konnten wie so oft nicht alle Fragen in den Chat eingstellt werden. Bei Interesse könnte ich Ihnen die offen gebliebenen Fragen gerne per Mail zuschicken, Herr Hentschel, und ich würde sie dann bei dol2day veröffentlichen.
Karl_Martin_Hentschel: Vielen Dank an alle - hat mir Spaß gebracht so kompetente Fragen zu beantworten.
Moderator: Ich hoffe der Chat hat allen Beteiligten gefallen und ich wünsche allen noch einen schönen Abend und eine gute Woche! Auf Wiedersehen!
Karl_Martin_Hentschel: Wenn sie mir die Fragen zuschicken, versuche ich sie zu beantworten. Wenn es nicht zu viele sind ???? Viel Erfolg weiterhin mit der Online-Demokratie
Moderator: Vielen Dank! Keine Angst, so viele sind es nicht ;o) - die Mail schicke ich gleich dann an die Email-Adresse, an die auch Ihr Kennwort geschickt wurde.
SSVFan_(nip): Auch von Seiten der Regierung möchte ich mich herzlich für Ihre Teilnahme am Chat bedanken.